Die libanesische Regierungskrise

 Saad al-Hariri. Foto: Kuwait-Ra'ed Qutena. Dieses Bild steht unter einer Creative Commons Lizenz.

24. Januar 2011
Layla Al-Zubaidi, Beirut
Von Layla Al-Zubaidi, Beirut.

 Mit dem Kollaps der “Regierung der nationalen Einheit” unter Premierminister Saad al-Hariri am 12. Januar, steht der Libanon zu Beginn des Jahres 2011 wieder am Ausgangspunkt. Nach Wochen des politischen Tauziehens traten die zehn Minister der von der Hisbollah angeführten Opposition geschlossen zurück. Der Rücktritt eines weiteren Hisbollah-nahen Ministers aus dem 30-köpfigen Kabinett reichte, um die Regierung mit legalen Mitteln zum Fall zu bringen. Die libanesische Verfassung betrachtet eine Regierung als aufgelöst, wenn sich mehr als ein Drittel ihrer Minister aus ihr zurückziehen.


Die beiden Lager: Koalitionen des 14. März und 8. März

Viele Libanesen haben wegen der Regierungskrise Angst vor einer neuen gewaltsamen Auseinandersetzung. Unerwartet kommt sie jedoch nicht. Seit langem bereits besteht tiefe Uneinigkeit über das im Mai 2007 vom Weltsicherheitsrat etablierte Sondertribunal für den Libanon (STL), das die Ermordung des früheren Premierministers Rafiq al-Hariri, Saads Vater, und eine Reihe weiterer politischer Attentate ahnden soll. Während die pro-westliche 14. März-Koalition um Hariri das Sondertribunal und die „Aufklärung der Wahrheit“ als politisches Banner vor sich herträgt, dient das Tribunal in den Augen der Opposition den Amerikanern und damit Israel als Werkzeug, um den Einfluss Syriens zu schwächen und den libanesischen Widerstand gegen Israel zu zerschlagen.

Seit nun bereits fünf Jahren dominiert der Umgang mit der Ermordung Rafiq al-Hariris im Februar 2005 das politische Geschehen im Libanon und spaltet das Land. Da er die syrische Einmischung in libanesische Angelegenheiten kritisiert hatte, machten seine Anhänger den syrischen Geheimdienst für das Attentat verantwortlich. Auch Teile der Bevölkerung, die der syrischen Bevormundung müde waren, schlossen sich breiten Protesten an. Die als “Zedernrevolution” bekannt gewordene Bewegung und internationaler politischer Druck zwangen das im Libanon stationierte syrische Militär zum Abzug aus dem Land. Auf der anderen Seite demonstrierten jedoch ebenso viele Libanesen für die Loyalität zu Syrien. Zwei politische Lager bildeten sich heraus. Sie benennen sich nach den Daten von Demonstrationen, zu denen sie jeweils riesige Massen mobilisieren konnten. Die von Saad al-Hariri und seiner sunnitischen Future-Partei angeführte 14. März-Koalition schließt vornehmlich pro-westliche Parteien ein, der 8. März-Koalition der schiitischen Hisbollah und Amal schloss sich später auch der einflussreiche christliche General Michel Aun mit seinem Free Patriotic Movement an. Im Laufe der Zeit nahm die Auseinandersetzung immer stärkere konfessionalistische Züge an, die die Fronten insbesondere zwischen Sunniten und Schiiten verhärteten und immer wieder in gegenseitige Beleidigungstiraden und Straßenkämpfe ausuferten.


Von der Krise zur Einheitsregierung

Zum ersten Mal hatten die Untersuchungen der Vereinten Nationen zu einer Regierungskrise geführt, als nach dem Krieg zwischen Israel und der Hisbollah im Sommer 2006 die damaligen Minister der 8. März-Koalition aus dem Kabinett von Premier Fuad al-Seniora zurücktraten. Auch beschuldigte die Hisbollah Politiker des gegnerischen Lagers, den israelischen Angriff aktiv unterstützt zu haben um sich der schiitischen Organisation zu entledigen. Mit der Forderung nach mehr politischer Beteiligung in der Einheitsregierung, besetzten die Anhänger des 8. März den zentralen Distrikt von Beirut. Im Mai 2008 explodierte die lange politische Paralyse schließlich gewaltsam: Die Forderung der Regierung, das Telekommunikationsnetzwerk der Hisbollah zu demontieren, führte zu tagelangen Kämpfen in Beirut und anderen Gegenden des Landes, aus denen die Kämpfer der Hisbollah und Amal eindeutig überlegen hervorgingen. Hassan Nasrallah, der Generalsekretär der Hisbollah, erklärte die Waffen der Widerstandsbewegung, zu deren Arsenal auch das Telekommunikationsnetzwerk gehört, als unantastbar. Nach dem altbekannten libanesischen Prinzip “weder Sieger noch Besiegte” einigten sich die beiden Faktionen bei Verhandlungen in der katarischen Hauptstadt Doha schließlich auf ein Drittel der Kabinettssitze für die Opposition. Dies verlieh ihr die gewünschte Vetomacht, die im Januar 2011 nun zum ersten Mal Anwendung fand.



Das Sondertribunal als Zankapfel


Seit Beginn der Untersuchungen des Sondertribunals galt jahrelang Syrien als Hauptschuldiger. Nun konzentriert sich die Aufmerksamkeit auf Mitglieder der Hisbollah. Seitdem sich die schiitische Organisation selbst im Zentrum der Untersuchungen sieht, torpediert sie das Sondertribunal umso vehementer. Das Vorgehen des ersten Untersuchungsleiters hat seinerseits nicht viel dazu beigetragen, die Legitimation des Tribunals im Libanon zu stärken. Der deutsche Staatsanwalt Detlev Mehlis legte sich hastig auf die höheren Ränge des syrischen Regimes fest und stützte sich auf Zeugen, deren Aussagen später als unglaubwürdig eingestuft wurden oder von den Zeugen später selbst widerrufen. Darüber hinaus ließ er sensible Informationen an die Öffentlichkeit durchsickern.

Obwohl sich Mehlis Nachfolger, der Belgier Serge Brammertz und der Kanadier Daniel Bellamare aufgrund dieser grandiosen Fehler um Objektivität und Diskretion bemühten, änderte dies nichts mehr an der verbreiteten Wahrnehmung, das Tribunal sei politisch gefärbt. Als die ersten Gerüchte zur Involvierung der Hisbollah mit einem im Jahr 2006 im Figaro veröffentlichten Artikel aufkamen, konterten Hisbollah-nahe Kräfte, dass es sich um einen politischen Feldzug gegen Syrien und die Hisbollah handele. Auch sorgte Erich Follath 2009 mit einem Bericht im deutschen Spiegel für Aufruhr, in dem er nicht nur schrieb dass sich die Untersuchungen auf Hisbollah als Hauptschuldigen konzentrierten, sondern auch mit offensichtlicher Unkenntnis der libanesischen Verhältnisse zu begründen suchte, warum Hariri dem Generalsekretär der Hisbollah ein Dorn im Auge gewesen sei. Da der Bericht nur wenige Wochen vor den libanesischen Parlamentswahlen erschien, beschuldigte Nasrallah die 14. März-Koalition durch gezielte Streuung falscher Informationen die Wahlen beeinflussen zu wollen. Weitere unbestätigte Berichte folgten, sie werden im Libanon aber inzwischen wie Fakten behandelt.

Mit zwei Hauptargumenten versucht die Hisbollah zu demonstrieren, dass sich das Tribunal auf der gänzlich falschen Fährte befindet. Zum einen führte sie in einer über das Fernsehen ausgestrahlten und spektakulär inszenierten Vorführung geknackter Satellitenbilder israelischer Drohnen “Beweise” dafür vor, dass die richtige Spur zum Täter nach Israel führe. Zum anderen sprengte der über die “falschen Zeugen” entbrannte Streit mehrere Kabinettssitzungen. Die Weigerung Saad Al-Hariris, eine Entscheidung über die Zeugenaffäre zum Thema einer Kabinettssitzung zu machen und sich vom Tribunal zu distanzieren, führte schließlich zum Rücktritt der Oppositions-Minister.


Internationale Interessen

Die Nachricht vom Zusammenbruch seiner Regierung erreichte Saad al-Hariri während seines Besuchs beim amerikanischen Präsidenten Barack Obama zum Abschluss einer internationalen Reise, die ihm politischen Beistand einwerben sollte. Eine Reihe internationaler Akteure stehen in enger Verbindung zu den libanesischen Akteuren in beiden Lagern und beeinflussen den politischen Prozess aus der Perspektive ihrer eigenen Interessen mit.

Während der Iran und Syrien das Tribunal erwartungsgemäß als politisch motiviert ablehnen, gehören Frankreich und die USA zu den politisch aktivsten Unterstützern. Washington sprang auch finanziell im November 2010 ein, als die Hisbollah die libanesischen Zahlungen für das Tribunal blockierte. Die USA hoffen nicht nur, mit potentiellen Haftbefehlen gegen Hisbollah-Mitglieder eine weltweite Ächtung der Hisbollah als terroristische Organisation zu erwirken, sondern vor allem auf eine Eindämmung des iranischen und syrischen Einflusses auf den Libanon. Die 8. März-Koalition hingegen beschuldigt die Amerikaner, Druck auf Hariri ausgeübt zu haben, damit er eine saudisch-syrische Initiative zur Beilegung der Krise ablehnt.

Das Doha-Abkommen hatte zu einer Annäherung zwischen Saudi-Arabien und Syrien geführt, nachdem die Beziehungen zwischen beiden Ländern für Jahre praktisch eingefroren waren, auch wegen gegensätzlicher Positionen gegenüber dem Libanon. Bei einem Treffen im Juli 2010 in Beirut zwischen dem saudischen König Abdallah, einem Verbündeten Hariris, und dem syrischen Präsidenten Baschar al-Asad, Unterstützer der Hisbollah, einigten sich beide schließlich darauf, in der libanesischen Krise geeint zu vermitteln. Über die Initiative ist nur wenig bekannt; wahrscheinlich beinhaltete sie, dass Hariri in irgendeiner Form Konzessionen gegenüber dem Tribunal eingeht – eine bittere Pille mit der sich Hariri seine politische Glaubwürdigkeit wohl verspielen würde. Diese litt bereits als er sich im September 2010 in einem Interview in der der saudisch-finanzierte Zeitung „ash-Sharq al-Awsat“ dafür entschuldigte, Syrien politisch für die Ermordung seines Vaters verantwortlich gemacht zu haben.


Unabhängiges Tribunal und ernüchternde Realpolitik

Diejenigen libanesischen Kräfte, die am Sondertribunal festhalten, scheinen in ihren politischen Absichten zu großen Teilen gescheitert. Zwar ist das Tribunal weitgehend autonom und darf auch dann operieren, wenn sich die politischen Machtverhältnisse im Libanon maßgeblich verändern. Ausbleibende Zahlungen können durch Zahlungen anderer Länder ersetzt werden, und das Tribunal kann eigenständig Anklage erheben, Haftbefehle erlassen und die libanesischen Behörden anweisen diese zu vollstrecken. Selbst wenn der Libanon die Verträge unilateral aufkündigen sollte, bliebe die völkerrechtliche Legitimation des Tribunals unangetastet.

Realpolitisch jedoch hat dies allenfalls symbolische Bedeutung. Denn fehlt libanesisches “ownership” und die Kooperation der libanesischen Institutionen, wird eine tatsächliche Vollstreckung der Haftbefehle praktisch unmöglich. Das Sondertribunal ist bis jetzt nicht vom libanesischen Parlament ratifiziert. Sicher ist, dass potentielle Haftbefehle gegen Mitglieder der Hisbollah auf Widerstand stoßen würden – wenn notwendig, auch auf bewaffneten. Aber solange die Hisbollah mit Denunziation und verfassungsrechtlicher Sabotage ihre Ziele erreichen kann, wird sie ein militärisches Einschreiten als letztes Ass im Ärmel so lange wie möglich herauszögern. Die 14. März-Koalition ihrerseits dürfte angesichts der schmählichen Niederlage in den Auseinandersetzungen von 2008 kein Interesse daran haben, sich wieder militärisch mit ihren Opponenten anzulegen. Denn auch westliche Unterstützungsbekundungen für das Sondertribunal werden ihr im Falle einer gewaltsamen Konfrontation nicht weiterhelfen. Dies zeigte sich bereits 2008, als selbst die von den USA trainierten und finanzierten libanesischen Sicherheitskräfte praktisch untätig aufgeben mussten. Ein großer Schlag für die 14. März-Koalition war außerdem die Erklärung des einflussreichen drusischen Anführers Walid Jumblat im November 2010:  das Sondertribunal richte sich eher gegen die Stabilität des Libanon als es der Gerechtigkeit diene. Walid Jumblat war 2009 noch als Mitglied der Koalition angetreten.
 

In der Sackgasse

Am 17. Januar 2011, weniger als eine Woche nach der Regierungsauflösung, legte das Sondertribunal die ersten Anklagen vor. Die Lage spitzt sich demnach zu und viel hängt davon ab wie die Anklagen ausfallen. Deren Prüfung kann jedoch noch Wochen dauern. In der Zwischenzeit hat die politische Situation im Libanon wieder mal eine Sackgasse erreicht. Auch internationale Akteure sind zunehmend vor ein Dilemma gestellt. Je nachdrücklicher sie sich für das Sondertribunal einsetzen, desto leichter machen sie es der Opposition, den Prozess als von außen gesteuert zu diskreditieren. Sollten internationale Akteure auf eine Verurteilung von Hisbollah-Mitgliedern insistieren, schwören sie unter Umständen einen Konflikt mit regionalen Folgen herbei. Insbesondere die Einmischung der Amerikaner wird als Provokation empfunden. So rief der libanesische Außenminister Ali Shami von der mit der Hisbollah verbündeten Amal-Partei am 17. Januar die USA zur Zurückhaltung auf - und lud die amerikanische Botschafterin Maura Connelly vor. Sie sollte erklären, warum sie sich mit bestimmten Schlüsselfiguren getroffen habe. Die offene Zurschaustellung amerikanischen Interesses am Sondertribunal wird jedoch nicht nur von Hisbollah-nahen Kräften kritisiert. Sie trifft auch in Kreisen politisch links orientierter Libanesen auf Ablehnung, die sich zwar weder als Verbündete der Hisbollah noch einer Allianz mit Syrien und dem Iran begreifen, aber trotzdem den anti-israelischen Widerstand unterstützen.

Hariri steht immer noch einem caretaker-Kabinett vor und hat verlauten lassen, dass er trotz der Versuche, ihn „politisch zu ermorden“ erneut als Premierminister kandidieren werde. Nasrallah verkündete seinerseits, dass die Opposition keinem von Hariri geführten Kabinett beitreten werde, wenn dieser nicht von seiner Position abrücke. Das Parlament teilt sich nahezu zur Hälfte in beide Lager auf, wobei Jumblats Block den Ausschlag geben könnte. Um Hariri zu einer für ihn höchst schmerzlichen Distanzierung vom Tribunal bewegen zu können, müsste die Opposition ihm ein ernsthaft attraktives, das heißt für sie selbst schmerzhaftes Angebot unterbreiten. Eher wird die Opposition jedoch einen eigenen Kandidaten vorschlagen, zum Beispiel den früheren Premierminister Omar Karameh. Sollte dieser die Mehrheit bekommen, dann wird die Opposition nach eigenem Bekunden eine Regierung ohne die 14. März-Koalition bilden. Dies würde jedoch nicht nur die libanesischen Sunniten aufbringen, sondern auch Saudi-Arabien und Ägypten verstimmen. Ein Bruch der Einigung von Doha auf eine Repräsentation aller Kräfte würde zudem die Kritik Katars und der Türkei provozieren. Sollte keiner eine Mehrheit bekommen, wird der politische Prozess wieder auf Monate hin einfrieren.


Pragmatismus nötig

Libanons tiefe Krise wirft die Frage auf, inwieweit in einer entlang gegensätzlicher ideologischer Ausrichtungen und divergierender innen- und außenpolitischer Visionen tief gespaltenen Gesellschaft, Ansätze völkerrechtlicher Aufarbeitung Erfolg haben können, wenn diese nicht von einer breiten Basis getragen werden.

Deutlich ist zumindest, dass der Libanon derzeit nicht ohne eine Beteiligung aller relevanter Parteien regiert werden kann. Internationale Akteure sollten daher bei einem notwendigen Bestehen auf völkerrechtliche Prinzipien mit einer nötigen Dosis an Pragmatismus dazu beitragen, die Tür für innerlibanesische Vermittlung offen zu halten. Gerade Länder wie Deutschland, die an der UNIFIL-Mission im Südlibanon beteiligt sind, wo weitere Konfrontationen mit Israel drohen, sollten Interesse daran haben dass der Dialog nicht vollends zusammenbricht.

Der saudische Außenminister hat inzwischen verlauten lassen, dass sich die saudische Führung aus Vermittlungsversuchen zurückgezogen habe. Beharrlicher scheinen der türkische und katarische Außenminister, die sich nach einem Sondergipfel zwischen der syrischen, katarischen und türkischen Führung in Damaskus derzeit in Beirut mit den verschiedenen libanesischen Akteuren beraten. Konsultationen sollen auch zwischen der türkischen und iranischen Führung stattfinden. Der französische Präsident hat eine Vermittlergruppe vorgeschlagen, unter Beteiligung von Frankreich, den USA, Syrien, Saudi-Arabien, Katar und der Türkei. Die Türkei ihrerseits schlägt vor, in einer Runde mit Saudi-Arabien, Ägypten und dem Iran zu verhandeln.

Ironie der innerlibanesischen Polarisierung ist, dass plötzlich interessante internationale Verhandlungskonstellationen denkbar sind. Oder verderben zu viele Köche letztendlich doch den Brei?

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Layla Al-Zubaidi leitet das Büro Mittlerer Osten der Heinrich-Böll-Stiftung in Beirut, Libanon.